Der Gedächtnisverlust – wie leicht man vom braven Auszubildenden zum Sexualverbrecher abgestempelt wird –

Ergänzungen zum weiteren Werdegang – siehe unten


(Ein realer Fall im Kampf gegen Vorverurteilungen)

Montag, 7:54 Uhr – in einem Kinderheim in Thüringen bekommt ein Mädchen eine SMS von ihrer besten Freundin, ebenfalls Heimbewohnerin: „Hilfe! Ich bin gerade in einer fremden Wohnung aufgewacht und weiß nicht, wo ich bin. Die Wohnungstür ist verschlossen. Sag dem Erzieher Bescheid.“

7:58 Uhr – neue SMS: „Er hat gerade eine SMS gesandt, dass er um 9:00 Uhr zurückkommt. Ich habe Angst. Ich muss hier weg. Ich bin in einem kleinen Dorf im Vogtland. Die Adresse lautet xxxx. Habe den Wohnungsschlüssel nun gefunden.“ (in der SMS teilte sie die korrekte Adresse mit)

9:03 Uhr – bei der Polizei geht der Anruf einer alten Dame aus einem Dorf im Vogtland ein. Sie teilt mit, dass bei ihr ein 15-jähriges Mädchen sei, das nicht wisse, wie sie in das Dorf gekommen sei.

Per Fax kommt von der Polizeidienststelle am Ort des Kinderheimes in Thüringen eine Vermisstenanzeige mit Nachfrage nach einem 17-jährigen Bewohner des Dorfes im Vogtland.

Das Mädchen wird durch die Polizei abgeholt und vernommen.

Sie erzählt, sie sei am Tag zuvor gegen 17:00 Uhr nach dem Schwimmen mit einer Freundin zu Fuß auf dem Rückweg zum Heim gewesen. Es habe hinter ihr eine schwarze BMW Limousine gehalten. Fahrer und Beifahrer seien ausgestiegen und hätten sie nach dem Weg gefragt. Dann ende ihre Erinnerung, noch während sie dabei gewesen sei, den Weg zu erklären.

Heute sei sie gegen 8:00 Uhr in einer fremden Wohnung in einem Bett aufgewacht, habe mit ihrer Freundin SMS gewechselt, den Wohnungsschlüssel gefunden und sei aus der Wohnung geflüchtet. Dann habe sie die alte Dame angesprochen, dass diese für sie die Polizei rufen soll, um sie zurück ins Heim zu bringen. Schmerzen habe sie nur leicht im Unterbauch, Verletzungen keine.
Die auf dem von ihr mitgeführten Handy befindlichen SMS werden angesehen und abfotografiert.

Anschließend wird sie im Krankenhaus untersucht. Verletzungen wurden nicht festgestellt.

Zwischenzeitlich wurde bekannt, dass die Wohnung, in der sie sich befunden haben muss, von dem 17-jährigen jungen Mann gemietet ist, nach dem die Thüringer Polizei bereits angefragt hatte.
Die ermittelnde Kommissarin tauscht mit den Beamten in Thüringen Informationen aus und beschließt dann, sofort eine Wohnungsdurchsuchung dort vorzunehmen. Sie nimmt zuvor keinen Kontakt zur Staatsanwaltschaft auf, um einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, der in Eilfällen auch vorab mündlich erteilt werden kann, zu erhalten, sondern schreibt in die Akte, es liege Gefahr im Verzug vor, da Gefahr bestehe, dass Beweismittel vernichtet werden könnten.

Auch Zeugen werden nicht zur Durchsuchung hinzugezogen und das für den minderjährigen Beschuldigten zuständige Jugendamt wird entgegen der Polizeilichen Dienstvorschrift 382 (PDV 382) ebenso wenig verständigt, wie auch sonst die Vorschriften bei Verfahren gegen Jugendliche unbeachtet bleiben.

In den Durchsuchungsbericht schreibt die Kommissarin später, sie habe mit der für diese Sachverhalte zuständigen Staatsanwältin telefoniert und diese "habe die Maßnahme gutgeheißen".

Die Kommissarin und drei weitere Beamte dringen entweder um 15:16 oder gegen 16:00 Uhr (Zeiten sind streitig) mithilfe eines Schlüsseldienstes in die Wohnung des jungen Mannes ein. Das Bettzeug wird gesichert und die Wohnung wird durchsucht.

Als die Kommissarin gerade –so schreibt sie später– einen Durchsuchungszeugen suchen gehen wollte, sei überraschend der Beschuldigte in der Wohnung aufgetaucht.

Das Mädchen, das die Beamten zur Durchsuchung mitgenommen hatten, habe eine Panikattacke bekommen, der junge Mann wurde geschnappt und ins Bad verfrachtet, sodann das Mädchen nach kurzer Intensivbetreuung aus dem Haus gebracht.

Dann wird dem jungen Mann eröffnet, dass gegen ihn seit dem Vormittag ein Strafverfahren wegen eines Sexualdeliktes laufe. Er habe, so ist später in der Akte zu lesen, auf Hinzuziehung von Zeugen oder eines Rechtsanwaltes verzichtet.

Der Beschuldigte stellt die Sachlage den durchsuchenden Beamten gegenüber völlig anders dar. Die Kommissarin gibt dies wie folgt wieder:

Er sei nach einem gemeinsamen Geburtstagskaffeetrinken zusammen mit dem Mädchen von seiner Mutter am Abend zuvor in seine Wohnung gebracht worden. Sie seien am Morgen gemeinsam aufgestanden und er sei zu seiner Ausbildungsfirma gegangen. Sie hätten ausgemacht, dass er gegen 09:00 Uhr in seiner Pause zum gemeinsamen Frühstück wieder in die Wohnung zurückkomme.

Als er gegen 09:00 Uhr zurückgekommen sei, habe er eine leere Wohnung vorgefunden.
Sein Tabak und sein Stopfgerät seien weg, aber es hätten noch Sachen des Mädchens umhergelegen.

Er habe am Vortag und heute SMS-Nachrichten mit ihr ausgetauscht, die beweisen würden, dass er die Wahrheit sage. Mit einer Sicherstellung seines Handys sei er einverstanden.

Da er die Rufnummer seines Vaters nicht nennen konnte, habe er den Vorschlag der Kommissarin, anderweitig einen Familienangehörigen ausfindig zu machen, nur zur Kenntnis genommen.

Seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Herbert Posner, bei dem er eine gute Woche später mit seiner Mutter einen Termin hat, schildert er später die Durchsuchungssituation in wesentlichen Punkten anders:

Die Wohnung hätten seine Eltern für ihn gemietet, da er in dem Dorf eine Ausbildung mache und weder von der Wohnung der Mutter, noch der des getrennt lebenden Vaters dorthin gelangen könne.

Er habe seinen Vater anrufen wollen, doch die Beamten hätten ihm sein Handy schon vorher weggenommen gehabt. Sie hätten sich geweigert, es ihm dafür zurückzugeben mit der Begründung, dass er ja sonst SMS hätte löschen können. Sowohl sein Vater, als auch seine Mutter seien unter entsprechenden Einträgen im Telefonverzeichnis des Handys gespeichert gewesen, so dass es den Beamten ein Leichtes gewesen wäre, deren Nummern auszulesen. Er habe den Rest der Woche bei seiner Mutter verbracht, da er zu fertig war, als dass er hätte arbeiten gehen können.

Durch die Aktion gelte er in dem Dorf nun als Sexualverbrecher. Was soll man dort mangels anderer Informationen auch sonst denken?!

Im weiteren Aktenverlauf finden sich dann Mitteilungen der Polizei in Thüringen, dass die Geschichte des Mädchens auch gelogen sein könne. Sie habe kurz vor einer Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gestanden und sei in dem Monat bis auf zwei Tage ständig vom Heim abgängig gewesen. Man habe nun auch gegen das Mädchen ein Verfahren wegen Vortäuschens einer Straftat eingeleitet.

Die leibliche Mutter des Mädchens sagte gegenüber der Polizei Thüringen sinngemäß: „Ich würde das meiner Tochter nicht glauben.“

Die informatorische Befragung der Mutter des Jungen und Zeugenvernehmung von deren Freundin bestätigen, dass beide Frauen die jungen Leute mit dem Auto zur Wohnung des Jungen gefahren haben, nachdem beide Jugendlichen am Geburtstagskaffee teilgenommen hatten.

Als vorerst letztes Blatt der Ermittlungsakte findet sich dann ein Vermerk der Staatsanwältin.

Diese teilt darin mit, sie sei in dem mit der Kommissarin geführten Telefonat mitnichten gefragt worden, ob sie mit der Durchsuchung einverstanden sei. Im Gegenteil, die Durchsuchung sei zu der Zeit offenbar schon im Gange gewesen. Es sei lediglich über eine mögliche Haftrichtervorführung des Beschuldigten gesprochen und von ihr eine solche abgelehnt worden.

Durch Rechtsanwalt Posner wurde anschließend Strafanzeige wegen psychischer Körperverletzung gegen die Kommissarin erstattet, zugleich Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sie und gegen die erfolgte Durchsuchung Beschwerde zum Amtsgericht erhoben.

Schon der offensichtliche Widerspruch zwischen der Aussage des Mädchens, sie habe nicht gewusst, wo sie sei und dem Text der SMS, in dem sie die genaue Anschrift mitteilt, obwohl sie sich zu dem Zeitpunkt noch in der Wohnung befunden haben will, hätte nach Auffassung des Verteidigers jeden Polizeibeamten hellhörig werden lassen müssen.

Stutzig macht zudem die Tatsache, dass der zeitliche Ablauf durch die Kommissarin in einigen Punkten von nachweisbaren Tatsachen abweichend dargestellt wird.

So sind die Zeitangaben im Durchsuchungsbericht nicht in Einklang zu bringen mit den (stets genauen) Zeitangaben im Polizeilichen Lagefilm, der im Revier beim Wachhabenden geführt wird und aus dem das Verständigen und Eintreffen des Schlüsseldienstes vor Ort zeitlich deutlich früher eingetragen ist. Der Widerspruch der Darstellung der Kommissarin zur Bitte des Beschuldigten, seinen Vater anrufen zu dürfen und zur Darstellung im Durchsuchungsbericht hierzu, mag derzeit hier unkommentiert bleiben.

Das Amtsgericht hat nunmehr per Beschluss die Durchsuchungsmaßnahme als unzulässig bezeichnet.

Es ist davon auszugehen, dass das Verfahren gegen den jungen Mann in nicht allzu ferner Zukunft eingestellt werden wird.

Ob sein Ruf im Dorf indes jemals wieder hergestellt zu werden vermag, erscheint jedoch äußerst fraglich, denn der Volksmund sagt für gewöhnlich: „Irgendetwas wird schon dran gewesen sein!“ …


Ergänzungen:

Am 10.07.2012 erreichte Herrn Rechtsanwalt Posner die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft.

Sie lautet:

Ermittlungsverfahren    gegen xxx

     wegen Vergewaltigung

 

Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt Posner,

in dem oben genannten Verfahren habe ich mit Verfügung vom 02.07.2012 folgende Entscheidung getroffen:

Das Ermittlungsverfahren wird gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Es hat sich herausgestellt, dass [der Beschuldigte] unschuldig ist.

In der Begründung heißt es dazu, dass nicht nur die Teilnehmer der Geburtstagsfeier am Tag vor der Verständigung der Polizei bestätigt haben, dass das Mädchen daran ganz normal teilgenommen habe und anschließend von der Mutter des Beschuldigten und deren Freundin in dessen Wohnung gefahren worden sei, sondern auch, dass die Freundin des angeblich geschädigten Mädchens befragt wurde.
Diese habe mitgeteilt, dass sie keineswegs mit der „Geschädigten“ im Schwimmbad gewesen sei und dass diese häufiger derartige Lügen erzählen würde, um sich selbst als unschuldig zu präsentieren.

Es sei daher, so die Mitteilung der Staatsanwaltschaft, von einer erwiesenen Unschuld des Beschuldigten auszugehen.

August 2012:
Das Strafverfahren gegen die Polizistin wurde inzwischen durch die Staatsanwaltschaft gem. § 170 II StPO eingestellt.
Zumindest am erforderlichen Vorsatz habe es ihr gemangelt.

Das eingeleitete Disziplinarverfahren gegen die Beamtin wird, so kann man vermuten, ausreichen, um sie zukünftig (wieder) in alle – auch entlastende Richtungen – denken zu lassen, wenn sie ein solches Verfahren auf den Tisch bekommt …

Der Verteidiger fragt sich, ob sie dem jungen Mann irgendwann eine schriftliche Entschuldigung zukommen lassen wird!?
Wie er sich gefühlt haben mag, wird sie nun durch den Druck des eigenen Verfahrens zumindest ansatzweise verstehen können.

Der älteren Dorfbewohnerin, die ohne Verschulden von einem vermeintlich armen, hilflosen Mädchen in die Geschichte mit hineingezogen wurde, wurde im Einverständnis mit dem Mandanten und dessen Eltern der Abdruck eines anonymisierten Berichtes zugesandt.

[Anm.: dieser Fall, wenngleich wie eine Geschichte geschrieben, ist keine Erfindung!
Lediglich Namen und Orte wurden weggelassen, um keine Rückschlüsse auf die realen Personen zu erlauben. Mandant und Eltern haben einer Veröffentlichung in dieser Form zugestimmt.]

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