Sexualdelikte – DDR-StGB

Sexualdelikte im Übergang von DDR und BRD – DDR-StGB

(Anm.: In diesem Verfahren wurde RA Posner erst nach abgeschlossener I. Instanz als Verteidiger mit der Revision beauftragt)

BGH, Beschluß vom 6. Dezember 1995 – 3 StR 410/95 –

StGB-DDR §§ 63 f., 148, 152; StGB §§ 53, 54, 176

Vorinstanz: LG Zwickau 2 KLs 642 Js 18.228/94

(weiteres Verfahren bis zur Rechtskraft siehe unten)

persönliche Leitsätze:

  1. Ein Gutachten über den psychischen Zustand der Tochter des Angeklagten ist nicht verwertbar, wenn die Tochter zuvor nicht über ihr Untersuchungsverweigerungsrecht gem. § 81 c Abs. 3 Satz 1 StPO belehrt worden war und dieser Verfahrensfehler auch im späteren Verfahren nicht geheilt wird.
  2. Es widerspricht sowohl dem StGB-DDR wie auch dem StGB, bei gleichzeitiger Aburteilung von Straftaten mehrere nebeneinander zu vollstreckende Freiheitsstrafen zu verhängen. Es ist auch für eine Vielzahl an Taten, die zum Teil vor, zum Teil nach der Wiedervereinigung stattfanden, eine einheitliche Gesamtstrafenbildung nach §§ 53, 54 StGB obligatorisch.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts, zu Ziffer 2 auf dessen Antrag, am 6. Dezember 1995 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Zwickau vom 6. April 1995 aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 95 Fällen, davon in 71 Fällen in Tateinheit mit Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden ist, jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren und inneren Tatgeschehen, mit Ausnahme derjenigen zu den Tatfolgen, aufrechterhalten;

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

 

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

 

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten nach § 148 Abs. 1 und 2, § 152 Abs. 1 StGB-DDR wegen in der Zeit vom 19. Mai 1984 bis zum 13. November 1988 begangenen sexuellen Mißbrauchs seiner Tochter T. in 93 Fällen, davon in 71 Fällen in Tateinheit mit Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten, sowie wegen zweier weiterer, im August 1984 und im Mai 1989 begangener Fälle des sexuellen Mißbrauchs von Kindern gemäß §§ 63, 64 Abs. 1 und 3 StGB-DDR zu einer Hauptstrafe von neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Außerdem hat es ihn wegen sechs nach dem 3. Oktober 1990 begangener Fälle des sexuellen Mißbrauchs von Kindern nach § 176 Abs. 1 und 3 StGB schuldig gesprochen und ihn insoweit zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung des sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlußformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

I. Verfahrensrüge

 

Die Rüge, das Landgericht habe ein psychologisches Gutachten über den psychischen Zustand der Tochter des Angeklagten verwertet, obwohl diese nicht über ihr Untersuchungsverweigerungsrecht gemäß § 81 c Abs. 3 Satz 1 StPO belehrt worden war, genügt noch den formellen Anforderungen nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Gegenstand und Inhalt des Gutachtens, dessen Verwertung als verfahrensrechtlich fehlerhaft gerügt wird, ergeben sich aus den Urteilsgründen, die wegen der in zulässiger Form erhobenen Sachrüge zur Ergänzung der Verfahrensrüge heranzuziehen sind (BGH NStZ 1993, 142, 143).

Die Rüge ist auch begründet.

1. Im Ermittlungsverfahren beauftragte die Staatsanwaltschaft die Diplom-Psychologin Z. damit, die Tochter des Angeklagten daraufhin zu begutachten, ob und in welchem Umfang diese an psychischen Schäden leidet, die als Folge des sexuellen Mißbrauchs durch den Angeklagten diagnostiziert werden können. Die Untersuchungen der Sachverständigen wurden durchgeführt, ohne daß die Tochter des Angeklagten zuvor über ihr Recht nach § 81 c Abs. 3 Satz 1 StPO, auch die Mitwirkung an der Begutachtung durch die Sachverständige verweigern zu können, belehrt wurde. Eine solche besondere Belehrung war für die Verwertbarkeit des Gutachtens erforderlich und nicht etwa schon im Hinblick auf frühere Belehrungen über das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 Abs. 1 Ziffer 3 StPO entbehrlich (BGHSt 13, 394, 399; 36, 217, 220). Die Geschädigte T. ist in der Hauptverhandlung nicht als Zeugin vernommen worden; eine Heilung des Verfahrensverstoßes durch eine nachträgliche, den Erfordernissen des § 81 c Abs. 3 StPO genügende Einwilligung der Zeugin in die Verwertung des Gutachtens kommt deshalb ersichtlich nicht in Betracht. Da ferner, wie bereits der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, nach Aktenlage nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß die Geschädigte T., wäre sie in der vorgeschriebenen Weise belehrt worden, von ihrem Untersuchungsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hätte, durfte das Landgericht das psychologische Gutachten über die Folgen des sexuellen Mißbrauchs der Geschädigten T. nicht zum Nachteil des Angeklagten verwerten.

2. Auf diesem Verfahrensfehler beruht nicht nur, wie der Generalbundesanwalt meint, der die Taten zum Nachteil der Tochter des Angeklagten umfassende Strafausspruch von neun Jahren Freiheitsstrafe, sondern auch der diese Taten betreffende Schuldspruch, der ebenfalls aufzuheben war.

Das Landgericht hat das psychologische Sachverständigengutachten, wonach T. an einer schweren psychotraumatischen Belastungsstörung leidet, die ihre Weiterentwicklung und Lebensqualität stark beeinträchtigt, als Grundlage für die Anwendung des § 148 Abs. 2 StGB-DDR in den diese Geschädigte betreffenden 93 Fällen herangezogen (vgl. UA S. 39). Diese Vorschrift enthält jedoch nicht nur eine bloße Strafzumessungsregel, sondern eine als eigenständiger Tatbestand ausgestaltete Qualifizierung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a. für den Fall, daß durch die Tat fahrlässig eine erhebliche Schädigung des Kindes verursacht worden ist.

Die Feststellungen zu den objektiven und subjektiven Umständen der einzelnen sexuellen Mißbrauchshandlungen des Angeklagten zum Nachteil seiner Tochter hat das Landgericht auf dessen Geständnis sowie auf objektive Beweismittel gestützt. Sie werden von dem Verfahrensverstoß nicht berührt und können daher bestehen bleiben.

II. Sachrüge

 

1. Der Senat hat schon aus Gründen des Sachzusammenhangs und in demselben Umfang wie in den zum Nachteil der Geschädigten T. begangenen Fällen den Schuldspruch wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern im ersten, nach dem StGB-DDR abgeurteilten Tatkomplex auch insoweit aufgehoben, als er zwei an anderen Kindern vorgenommene sexuelle Handlungen betrifft.

Zwar sind diese Straftaten an sich rechtsfehlerfrei festgestellt worden, der neue Tatrichter muß jedoch Gelegenheit haben, den ersten, 95 Einzeltaten umfassende Tatkomplex rechtlich insgesamt neu zu bewerten.

2. Soweit der Angeklagte wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sechs Fällen nach den §§ 176, 53, 54 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden ist, hat die Überprüfung des Urteils zum Schuldspruch und zu den Einzelstrafaussprüchen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Der Ausspruch über die aus den Einzelstrafen in diesem Tatkomplex gebildete Gesamtstrafe von zwei Jahren Freiheitsstrafe kann jedoch nicht bestehen bleiben. Er war aufzuheben, weil der neue Tatrichter aus den für die nach dem 3. Oktober 1990 begangenen Taten verhängten Einzelstrafen sowie aus dem Strafausspruch für die vor dem 3. Oktober 1990 begangenen Taten insgesamt gemäß §§ 53, 54 StGB eine Gesamtstrafe zu bilden haben wird.

Die bisherige Verfahrensweise des Landgerichts, in einem Urteil gleichzeitig eine Hauptstrafe nach den §§ 63 f. StGB-DDR und eine nach den §§ 53, 54 StGB gebildete Gesamtstrafe zu verhängen und diese nebeneinander bestehen zu lassen, ist nicht zulässig. Den Fall, daß mehrere sowohl vor als auch nach dem 3. Oktober 1990 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begangene Straftaten gleichzeitig abgeurteilt und auf die vor dem 3. Oktober 1990 begangenen Taten nicht das StGB, sondern das StGB-DDR angewandt wird, hat der Vereinigungsgesetzgeber nicht geregelt.

Es widerspricht sowohl dem StGB-DDR (§§ 63, 64: Prinzip der Einheitsstrafe) wie auch dem StGB (§§ 53, 54: Prinzip der Gesamtstrafe), bei gleichzeitiger Aburteilung von Straftaten mehrere nebeneinander zu vollstreckende Freiheitsstrafen zu verhängen.

Da am 3. Oktober 1990 die §§ 63, 64 StGB-DDR außer Kraft getreten sind, können die danach begangenen Taten nicht mehr durch eine Hauptstrafe geahndet werden; es ist daher eine Gesamtstrafenbildung nach den §§ 53, 54 StGB obligatorisch.

Ob für die vor dem 3. Oktober 1990 begangenen Taten eine in die Gesamtstrafe einzubeziehende Hauptstrafe oder jeweils Einzelstrafen zu verhängen sind, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. Denn der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter ist ohnehin gehalten, sich bei dem nach Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB, § 2 Abs. 3 StGB in konkreter Betrachtungsweise anzustellenden Gesamtvergleich nicht so sehr an den nach §§ 148 Abs. 2, 64 Abs. 3 StGB-DDR einerseits und nach den §§ 176, 53, 54 StGB andererseits jeweils zur Verfügung stehenden Strafrahmenobergrenzen zu orientieren, sondern vor allem auch die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundsätze zur Gesamstrafenbildung bei Serienstraftaten (vgl. BGH NJW 1995, 2234 f.; BGHR StGB § 54 I Bemessung 8 ) in seine Erwägungen einzubeziehen.

Im übrigen hat der Generalbundesanwalt zutreffend auf die teilweise eingetretene Verjährung hingewiesen, soweit die Taten des Angeklagten als nach § 152 StGB-DDR strafbarer Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten abgeurteilt worden sind. Die gleiche – fünfjährige – Verjährungsfrist gilt nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB auch für den gemäß § 173 StGB strafbaren Beischlaf zwischen Verwandten.


Kurzbericht über das weitere Verfahren:

 

Mit Urteil des LG Zwickau ( AZ.: 1 KLs 642 Js 18.228/94) vom 18.11.1996 wurde der Angeklagte wie folgt verurteilt:

1. Der Angeklagte wird wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 99 Fällen, in 18 Fällen in Tateinheit mit Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten zu einer

Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Jahren 6 Monaten

verurteilt.

2. … (Kostenentscheidung)

 

Die Kammer bildete die o.g. Gesamtstrafe aus einer Hauptstrafe von 7 Jahren nach StGB-DDR für die Taten vor dem 3 Oktober 1990 und Einzelstrafen nach dem StGB von 4 * 3 Monaten, 1 * 6 Monaten und 1 * 2 Jahre 3 Monaten für die Taten nach dem 3 Oktober 1990.

Die hiergegen eingelegte erneute Revision (3 StR 126/97) wurde mit Beschluß gem. § 349 Abs. 2 StPO verworfen.